Der 3. Oktober, ein Feiertag. Bilder mit jubelnden Menschen in den Geschichtsbüchern. Lange habe ich überlegt, ob ich heute einen Beitrag veröffentliche, etwas zum Tag der Deutschen Einheit schreibe, oder nicht. Jetzt ist der Morgen des Feiertages und ich sitze hier und tippe spontan meine Gedanken nieder. Der Tag der Deutschen Einheit, das ist für mich nicht ein Feiertag, wie er es vielleicht sein sollte oder gedacht ist. So viele Gefühle und Ebenen mischen sich. Es fällt mir schwer, sie umfassend und strukturiert zu beschreiben. Verständlich? Vertraue ich nun dem spontanen Tun.
Am 3. Oktober 1990 wurde die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten, die sich vierzig Jahre in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) aufteilten, gefeiert. Das war knapp einem Jahr nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Was in diesem Jahr alles geschehen ist? Immer noch unbegreiflich. Ein Rausch, eine Geschwindigkeit… Diese Zeit hat Narben hinterlassen. Und heute wird mir klar, dass wir nicht nur die kommunistische und realsozialistische Zeit aufzuarbeiten haben, sondern auch die Zeit der Wende. Das meine ich nicht nur für die Ostdeutschen sondern auch für die Westdeutschen. Die Aufarbeitung ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Schließlich sind wir seit siebenundzwanzig Jahren ein wiedervereintes Deutschland. Auch das Ergebnis der letzten Bundestagswahl macht dies deutlich.
Was war in dieser Zeit? Dabei kann ich nur für mich aus meinen persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen heraus sprechen. Die historischen Daten lassen sich in Büchern oder im Internet nachlesen. Ich war damals 16/ 17 Jahre alt, Teenager. Im Sommer 1990 hatte ich die 10. Klasse mit ihren schriftlichen und mündlichen Abschlussprüfungen zu bestehen. In Geografie sprach ich von der Po-Ebene, ohne jemals dort gewesen zu sein. Die Ost-Mark wurde abgeschafft, die D-Mark wurde eingeführt. Ost-Produkte wurden zu Spottpreisen verschleudert. Obst wurde marktschreiend unters Volk geworfen. Die Sommerferien verbrachte ich mehrere Wochen an der Ostsee und arbeitete dort in der Küche eines Kinderferienlagers. Nachts lagen wir auf der Tischtennisplatte und schauten hoffnungsvoll in den wolkenlosen Sternenhimmel. Bei einem Ausflug war ich das erste Mal im Heidepark Soltau. In einem kurzen Gespräch mit einem gleichaltrigen Mädchen verheimlichte ich, dass ich aus Ostberlin komme. Ich bemühte mich, hochdeutsch zu sprechen. Im Herbst ging ich aufs Gymnasium. Dort begegnete ich neuen Mitschüler.innen. So manche Herbst- und Wintertage verbrachten wir feiernd und philosophierend. Mein Weg von der Kindheit in der DDR zum Erwachsenwerden in der BRD. Ich besuchte Demonstrationen, die sich für Veränderungen einsetzten. Die Räumung der Mainzer Straße in Berlin Friedrichshain machte mir Angst. Die Erwachsenen waren mit sich beschäftigt; Abwicklung, Arbeitslosigkeit, Aussichtslosigkeit, Ungewissheit, Existenzängste. Westdeutsche kamen ins Land, um ihnen die Welt zu erklären. Von nun an würde alles besser werden. Nur leider fühlte es sich damals nicht so an.
Dieser Artikel macht deutlich, wie willkürlich der 3. Oktober aus und in dieser Zeit im Jahr 1990 hervorgegangen ist: 3. Oktober: Warum der Tag der Deutschen Einheit ein Feiertag ist von Martin Ferber, Augsburger Allgemeine. Das Gefühl der Freiheit verbinde ich persönlich mit dem 9. November 1989: …Ein bedeutender Teil meines Lebens und Mein Licht.
Für mich und für viele meiner Generation wurde es besser. Wir standen an der Schwelle ins Berufsleben, konnten lernen, studieren, reisen. Für viele unserer Elterngeneration wiegt diese Zeit noch schwer. Es war eine Zeit voller Extreme zwischen Euphorie und Überleben. Sie hat uns geprägt. Lasst uns darüber reden und unsere Erfahrungen austauschen.
Noch mehr gelesen:
Familiensache Wende von Viola Lippmann, MyOstBlog
Wie war das für Euch? Die dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern – ein Buch von Judith Enders (Hg.), Mandy Schulze (Hg.) und Bianca Ely (Hg.) erschienen im Ch. Links Verlag.
Wie die Deutsche Einheit mich dazu gebracht hat, Rechtsanwältin zu werden von Dr. Geertje Tutschka, Edition F
Ich bin schon gespannt, wie sich die Serie Weissensee, dieser Zeit filmisch nähern wird.
… So gibt es sicher noch viele interessante Beiträge, Gedanken, Erinnerungen und Aufarbeitungen zum heutigen Tag. Welche hast Du entdeckt?
Mir scheint es nun auch dringend notwendig zu sein, DIESE Geschichte aufzuarbeiten. Das ist für jemand in meinem Alter, der sich in seinem 10. Lebensjahr die Aufarbeitung der Nazizeit auf die schwachen Schultern geladen und über fünfzig Jahre sich diesem selbst gewählten Auftrag gestellt hat ( und zu einer Säule seines Selbstverständnisses hat werden lassen, was mich vielleicht/wahrscheinlich auch behindert bei der Bewertung mancher politischer Entwicklung im Osten ) schwer, denn es fehlt auch oft die Kraft.
Natürlich haben mein Mann und ich die Geschehnisse am 4. November 1989 mit angehaltenem Atem verfolgt, da wir dies nie für möglich gehalten hatten. Mein Mann hatte seinerzeit seine Liebste in Ostberlin durch den Mauerbau „verloren“, und wir beide hatten uns mehr oder weniger zufrieden mit dieser westlichen Hälfte abgefunden. Wir haben nicht an die so schnell erblühenden Landschaften des damaligen Kanzlers geglaubt und hätten uns eine weniger hastige, demütigende „Abwicklung“ der DDR gewünscht. Aber wir gehörten zu einer Minderheit, die nicht über die notwendige politische Stimme damals verfügte.
Und dann holte einen immer wieder der ganz banale Alltag mit Familie & anstrengendem Beruf ein. Als man wieder Zeit zum Reflektieren, zum Reisen in den Osten & Gesprächen mit den Menschen dort, hatte, waren viele Weichen schon gestellt und nicht immer zum Guten, wie es einem ja jetzt auf die Füße fällt.
Ich hoffe auch, dass über dieses Medium ein Austausch stattfinden kann ( hat es auch schon in den letzten Tagen ). Denn so sollte es nicht weiter gehen. Spaltpilze werden zur Zeit zu viele gezüchtet. Und die sind immer gefährlich, haben viele Gemeinschaften vergiftet.
Deine künstlerischen Arbeiten zu deiner Vergangenheit finde ich sehr ansprechend und inspirierend.
Liebe Grüße
Astrid
Liebe Astrid, herzlich Willkommen hier und vielen, vielen Dank für Deine Zeilen, Deine Sicht, Deine Erfahrungen! Die Geschichten einer jeden, eines jeden sind das, was ich immer wieder spannend und sehr bereichernd finde. Sie zu erzählen, ermöglicht den Austausch und das Verstehen. Danke. Oh ja, das Zuviel kenne ich sehr gut. Gerade eigentlich auch wieder. Aber die Zeit lässt mich nicht los und dann ist da noch die Nazizeit… Es gibt viel zu tun und zu lernen. Ich hoffe, wir schaffen es, dem Gift entgegenzuwirken. Herzliche Grüße und vielen, vielen Dank, Doreen
Liebe Doreen,
ich freue mich auf Freitag, wenn wir Gelegenheit haben, über all diese Dinge zu sprechen und uns zu fragen, wie wir Kunst daraus machen wollen, Kunst, die nachdenklich macht, Kunst, die aufzeigt, Kunst die zu Fragen aufruft.
Liebe Grüße von Susanne
Liebe Susanne, ich freue mich auch schon sehr. Vielen Dank für Deine Zeilen. Herzliche Grüße, Doreen
Ganz spontan gefragt, zum Weiterdenken, vielleicht hast du auch Lust hier mitzumachen. Unsere Kultur: https://lemondedekitchi.blogspot.de/2017/10/was-macht-fur-mich-unsere-kultur-aus.html
Ach, diese Zeit vor bald drei Jahrzehnten…, ich habe irgendwie noch einen Deckel auf diesen Fächern in meinem Kopf, ich bin noch nicht so weit. Ja, du hast Recht: Es war eine rasendschnelle Zeit mit so schnellen und tiefgreifenden Veränderungen, dass man kaum noch hinterherkam und wir an den Folgen noch zu tragen haben. Und das hat so gar nichts mit Undankbarkeit zu tun, wie der sonst von mir sehr verehrte Friedrich Schorlemmer neulich sagte. Unvergesslich und der liebste Tag in dieser Zeit ist mir der 4. November 1989.
Liebe Ghislana, ja, manchmal habe ich selbst genug von dieser Zeit, von diesem Thema. Eigentlich habe ich gerade vor, mich mal einem anderen Thema zu widmen, Pause zu machen… Aber dann kommt es wieder um die Ecke und lässt mich nicht los. Ich bin sehr dankbar darüber, dass es für mich persönlich heute so ist, wie es ist, dass es so kam. Aber das Thema ist so viel mehr und hat so viele Ebenen und Seiten. An den 4. November 1989 habe ich selbst leider, leider keine Erinnerungen. Ich weiß nicht, wo ich da war und was ich gemacht habe. Ein so wichtiges Datum! Der 9. November 1989 wurde es für mich dann Jahre später… Herzliche Grüße und vielen Dank für den Link. Spannend. Doreen