Werte – Was soll das eigentlich sein?
Warum handeln wir, wie wir handeln? Warum bewerten wir, wie wir bewerten? Dafür haben wir einen inneren Kompass, unsere Werte. Sie machen unsere grundlegenden Überzeugungen und Prinzipien aus – von uns individuell, aber auch von uns als Gesellschaft. Oft spiegeln Werte kulturelle, soziale und historische Kontexte wider und tragen dazu bei, Gemeinschaften zu bilden und zu verbinden. Werte sind nicht abstrakt. Sie bestimmen unsere Lebensart, unsere Lebensweise. Werte sind Generationen übergreifend. Wir leben nach ihnen, auch wenn sie uns nicht bewusst sind. Wir geben sie auch unbewusst weiter. Wenn wir über Werte nachdenken und die, die wir in uns haben, wie wir sie in uns haben, hinterfragen, dann holen wir sie ins Bewusstsein. Dann finden wir heraus, was uns wichtig ist. Dann können wir die Werte beeinflussen und selbst gestalten.
Wie war das mit den Werten in der DDR?
In der DDR wurden verschiedene Werte vermittelt, die eng mit dem sozialistischen Denken verknüpft waren. Schon bei der „Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten“ in der Kinderkrippe, im Kindergarten, in der Schule und bei der Ausbildung/ im Studium, bei der Armee wurden die Werte vermittelt. Solidarität, Gemeinwohl und Kollektivismus standen im Vordergrund und prägten das Leben der Menschen. Doch diese Werte bedeuteten auch, die Einschränkung individueller Freiheit und Kreativität. Die Menschen wurden kontrolliert und überwacht. Dafür gab es sogar ein eigenes Ministerium, das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi). Abweichungen von der Norm zogen Konsequenzen nach sich – bis hin zum Gefängnis und zur Ausbürgerung. Der Staat wollte Menschen, die gehorsam sind. Diese negativen Prägungen zeigen sich in den Lebensrealitäten vieler Menschen, selbst Jahrzehnte später. Und sie werden auch unreflektiert an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.
Wie war das mit den Werten nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung?
Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 trat ein radikaler Wandel ein. Plötzlich trafen die zum Teil eher konträren Werte aus der DDR auf die Werte aus der Bundesrepublik. Dies war verständlicherweise überfordernd. Von heute auf morgen galten die alten Werte nicht mehr. Aber wie schafft man es, von heute auf morgen, sich neu zu orientieren? Die bisherige Identität und die damit verbundenen Werte wurden durch den Untergang der DDR massiv in Frage gestellt. Das sorgte für Spannungen und Missverständnisse, zu inneren und äußeren Konflikten, die bis heute andauern. Zwei Welten trafen aufeinander, eine emotionale Zerreißprobe. Und das in einer Zeit, in der es bei vielen zunächst ums reine Überleben ging. Die eigene Existenz und die der Familie musste gesichert werden. Da blieb bei den Menschen kaum bzw. keine Zeit, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Aber warum hat sich der Staat nicht damit auseinandergesetzt?

Was hat das mit uns heute zu tun?
Dass dieser Wertewandel gesellschaftlich bis heute nie betrachtet und aufgearbeitet wurde, hat tiefe Spuren hinterlassen, die uns heute mehr denn je vor Herausforderungen stellen. Die Erfahrungen, z.B. durch den Vertrauensverlust in Staat und Regierung der DDR und der BRD im Zuge der Wiedervereinigung (Stichwort „Treuhand“) prägen nicht nur die gesellschaftlichen Interaktionen, sondern hinterlassen auch tiefe Einschnitte. In einer Gesellschaft, die stark von Individualismus und Eigenverantwortung geprägt ist, macht sich die Sehnsucht nach Gemeinschaft breit. Der Druck, den westlichen Lebensstandards gerecht zu werden, führte und führt nicht selten zu Unsicherheiten, Ängsten und einem oft tief verwurzelten Gefühl der Unzulänglichkeit. Die Geschichten der „Wendeverlierer“, Menschen, die ihre Arbeit mit den Ende der DDR verloren und nie wieder richtig Fuß gefasst haben, sind keine Seltenheit. Ebenso gibt es viele Erzählungen von Verrat durch die Akteneinsichten ins Stasi-Unterlagenarchiv. Diese Erfahrungen haben in den Familien tiefe Wunden hinterlassen, die auch an die folgenden Generationen weitergeben werden.
Seit der Wiedervereinigung haben sich die Werte in Deutschland erheblich verändert. Der Einfluss des Kapitalismus und die Betonung individueller Freiheiten haben die kollektivistischen Werte der DDR zurückgedrängt. Hinter der Sehnsucht nach der DDR verbirgt sich oft die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach einer klaren Orientierung und nach Sicherheit. Die DDR-Werte sind nicht völlig verschwunden. Aber die radikale Abkehr führte zu einem Werte-Vakuum, zu massiver Unsicherheit, die sich in den Menschen eingegraben haben. Da stoßen unweigerlich einfache Antworten und ein klares Schwarz-Weiß-Bild auf offene Türen. Viel zu lange wurden die Ängste und Unsicherheiten, ja mitunter die Existenz ostdeutscher Lebensrealitäten, ignoriert.
Was haben denn junge Menschen mit den DDR-Werten zu tun?
Zwei Diktaturen und der radikale Systemwechsel – das ist ein schweres Erbe mit dem sich junge Menschen, die die DDR und auch die Wendezeit nicht selbst erlebt haben, konfrontiert werden. Oft fühlen sie sich zwischen der Vergangenheit, die ihre Eltern und Großeltern erlebt haben, und ihrer Gegenwart sowie ihrer Zukunft hin und her gerissen. Andere wiederum greifen auf die alten Werte, die in der DDR vermittelt und gelebt wurden, aufgrund der vielfältigen Probleme und Herausforderungen in der Gegenwart zurück.
Die Erfahrungen mit den Werten der DDR und die folgenden Konflikte im wiedervereinten Deutschland werden in Familien oft unbewusst weitergegeben und beeinflussen das Wertesystem der jüngeren Generationen. Viel zu viel wird verdrängt. Schmerzhafte Erinnerungen werden vererbt. Der Dialog ist oft schwierig, da alte Wunden immer wieder aufbrechen, wenn Themen einschneidende persönliche Geschichten berühren.

Worin liegt unsere Chance?
Es ist an der Zeit, sich mit den Werten der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wie waren sie mit den jeweiligen Systemen verstrickt bzw. von diesen Systemen eingefärbt? Welche Bedeutung hatten sie für die Menschen damals und wie können wir sie in ein zeitgemäßes Licht rücken?
Die Werte aus der DDR sind ein Teil des kulturellen Gedächtnisses Deutschlands und haben sowohl positive als auch negative Auswirkungen hinterlassen. Trotz der Herausforderungen, die mit dem Wertewandel verbunden sind, bieten sie wichtige Einsichten in Gemeinschaft und Verantwortung. Für viele Menschen, insbesondere in Ostdeutschland, bleibt diese Erbschaft lebendig und wird in den alltäglichen Umgangsformen, sozialen Interaktionen und politischen Diskursen sichtbar. Es liegt an uns, einen Weg zu finden, um diese Werte in ein neues, positives Licht zu rücken und die negativen Prägungen konstruktiv zu bearbeiten. Die Herausforderung für die Zukunft wird darin bestehen, die positiven Aspekte der DDR-Werte zu bewahren und gleichzeitig offen für neue Ideen und Impulse zu sein. In diesem Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt eine enorme Chance, die sowohl die persönliche als auch die gesellschaftliche Entwicklung fördert.
Indem wir uns mit unseren Werten auseinandersetzen,
formen wir nicht nur unsere Identität,
sondern auch die zukünftige Gesellschaft, in der wir leben möchten.

Weitere Informationen und Perspektiven zum Thema:
- Werte und Wandel im vereinten Deutschland – Bundeszentrale für politische Bildung
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26719/werte-und-wertwandel-im-vereinten-deutschland/ - Werte und Wertewandel – Bundeszentrale für politische Bildung
https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202212/werte-und-wertewandel/ - DDR: Ein Staat der Werte und der Widerstand – TU Dresden
https://tu-dresden.de/gsw/slk/zmoe/ressourcen/dateien/dateien/Kolloquien/down/Neubert.pdf?lang=de - Lebensweise und Werte in der DDR – Toni Hahn, Leibnizinstitut für Sozialwissenschaften
https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/17711/ssoar-1989-hahn-lebensweise_und_werte_in_der.pdf?sequence=1&isAllowed=y - Wertewandel in der DDR – Geschichte Wissen
https://geschichte-wissen.de/blog/wertewandel-in-der-ddr/
Dies ist eine subjektive und unvollständige Auswahl der online und offline verfügbaren Texte.
